I Einleitung

    1. Editorial

    Die Broschüre setzt sich mit Äußerungen und Behauptungen der AfD auseinander und mit der Frage, was die Zielsetzungen der AfD für Deutschland bedeuten. Die Broschüre ist ein Angebot an alle, die sich kritisch mit der AfD auseinandersetzen und darüber mit anderen diskutieren wollen. Einerseits fühlen wir  Behauptungen der AfD auf den Zahn, um zu zeigen, dass sie einer genaueren Prüfung nicht standhalten können. Andererseits arbeiten wir heraus, wofür die AfD tatsächlich steht – worauf sie abzielt, was ihre Forderungen für unser Land bedeuten würden. Im Kern möchten wir (auch historisch) herleiten, dass die AfD einen autokratischen Staat mit einer juristisch verankerten Diskriminierungsagenda aufbauen will, der als rechtsextrem bzw. faschistisch zu bewerten ist. Die AfD vertritt eine Agenda, in der Sexismus und Rassismus das Herzstück bilden und die eine massive Gefahr für Deutschland darstellt. Dabei behalten wir im Blick, dass die AfD Teil des gesamteuropäischen Aufstiegs des Rechtsextremismus ist und dass dieser wiederum nur die Spitze des Eisberges eines dramatischen Rechtsrucks der so genannten “Mitte der Gesellschaft” ist.

       Rassismus und Sexismus sowie die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen haben eine jahrhundertelange Geschichte, die zu keinem Zeitpunkt überwunden wurde. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben Kämpfe gegen Diskriminierung erwirkt, dass Diskriminierung beim Namen genannt wird und Antidiskriminierungsmaßnahmen und -gesetzgebungen etabliert wurden. Die AfD macht keinen Hehl daraus, diese abschaffen zu wollen. Es geht der AfD also gar nicht darum, den Status zu erhalten. Der angebliche Konservatismus rechter politischer Kräfte rüttelt an diesen noch jungen Errungenschaften. Insgesamt gibt es einen Backlash, der weiße heteronormative Normsetzungen und Ausgrenzungsstrategien wieder laut und sichtbarer macht.

    Die Gedanken und Argumente, die in diese Broschüre einflossen,  fußen auf Erfahrungen und Expertisen von wissenschaftlich, aktivistisch und künstlerisch arbeitenden Personen verschiedener Altersgruppen, Berufe, Geschlechter. Schwarze Menschen, People of Color und weiße Personen haben an dem Projekt mitgewirkt. Wir arbeiten in Gedenkstätten, NGOs oder Bildungseinrichtungen.

    Unser Name,  “Deutschland solidarisch gestalten”, fasst unsere Zielsetzung zusammen. Wir wollen Deutschland solidarisch gestalten und das heißt auch, Diskriminierung, dem Rechtsruck hierzulande und konkret der AfD Sand im Getriebe zu sein. Dafür werden Forschungen und Erfahrungen mobilisiert, in gegebener Überlagerung. Wir nehmen die Bedrohung ernst, die von der AfD für BIJPoC, also Schwarze Menschen, Indigene Menschen, Juden_Jüdinnen und People of Color, sowie queere Personen oder Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Einschränkungen ausgeht. 

     Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, ist nichts, wofür die AfD steht. Für sie sind einige Menschenleben mehr wert als andere. Diese Broschüre möchte daher diskutieren, was es bedarf, um dieses bundesdeutsche Credo gesamtgesellschaftlich zu leben. 

    Faktenbasiert argumentieren zu können, ist eine wichtige Kompetenz. Zugleich bedarf es der Bereitschaft, überhaupt miteinander ins Gespräch kommen und einander zuhören zu wollen. Neben Wissen wird Empathie dabei eine Schlüsselposition einnehmen müssen.  Wenn es uns gelingt, die Auswirkungen von Diskriminierung emotional und über fundierte Sachargumente zu erfassen, dann ist das eine wichtige Grundlage dafür, sich produktiv Diskriminierung und der AfD in den Weg stellen zu können. Daher wünschen wir uns eine Debattenkultur, die achtsam, wertschätzend und empathisch gestaltet wird.

     2. Miteinander Reden

    Jeder Mensch hat Interessen. Diese können von anderen geteilt, toleriert oder abgelehnt werden. Eine Gesellschaft muss dieses Spannungsfeld so gestalten, dass Konflikte angeschaut und gelöst werden. Aktuell fühlt es sich für viele so an, dass diese Konflikte so groß sind, dass sie im Streit ersticken und es kaum noch Lösungen gibt. Für einige ist es etwa wichtig, dass die Errungenschaften der Antidiskriminierungsarbeit und -gesetzgebung ernst genommen werden, weil sie sich davon eine Verbesserung der Lebenssituation von sich selbst und anderen erhoffen. Andere regt genau dies auf und beschimpfen dies als Wokeness. Viele fühlen sich davon sogar in ihrer Lebenssituation beeinträchtigt. Auf der einen Seite wird geschlechtergerechte Sprache vielen zu einem wertgeschätzten sicheren Ort, und auf der anderen Seite empfinden andere genau dies als bedrohlich – was sogar schon zu Verboten führte. Am Ende des Tages aber geht eine Person, die in der Schule mit dem falschen Pronomen angesprochen wird ebenso unzufrieden nach Hause, wie ein Lehrer, der den Genderstern zwar verbietet, dafür aber das Vertrauen oder auch nur die Zugewandtheit seiner Schüler*innen einbüßt. Denn letztendlich kann er das Grummeln im Klassenraum, das seiner konservativen Haltung gilt, nicht ausblenden, und diese Erfahrung bewirkt, dass er sich für seine Durchführung des Unterrichts nicht ausreichend wertgeschätzt fühlt.

    Vor diesem Hintergrund finden wir es sehr wichtig, sich folgenden Fragen aufrichtig zu stellen: In welcher Welt möchte ich leben? Was ist mir wichtig und warum – und was ärgert mich? Wie möchte ich über das sprechen, das mich ärgert?  Was brauche ich, damit ich solche Gespräche führen kann? Was kann ich geben, um insgesamt zu einem guten Debattenklima und zur wechselseitigen Wertschätzung beizutragen? 

    Es sind Fragen wie diese, es sind Fragen dazu, wie wir in Deutschland leben wollen, die im Zentrum dieser Broschüre stehen. Dabei hat sie vor allem ein zentrales Ziel: Im Zentrum dieser Broschüre stehen Argumente, die Behauptungen der AfD widersprechen. Warum?

    Die AfD dockt sich gerne an Themen an, über welche die Gesellschaft streitet. Mehr noch: Sie schürt diese – und zwar, um Konflikte und Probleme als unlösbar darzustellen und um dann zu behaupten, dass allein die AfD diese Probleme lösen könne. Doch die AfD muss sich die Frage gefallen lassen, ob “Migration” wirklich die Mutter aller Probleme ist oder auch, ob sie wirklich die Interessen ökonomisch diskriminierter Menschen oder der Ostdeutschen vertritt.

    Für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bieten wir Argumente an. Diese sollen unproduktiven Streit verhindern und die Debattenkultur stärken. Der Mensch ist gut und er verdient Gutes. Dennoch verletzen Menschen einander – und meist ist das nicht mal so gewollt. Viele Verletzungen resultieren daraus, dass eigene Interessen kompromisslos verfolgt werden – also ohne die Bedürfnisse anderer, etwa nach Wertschätzung, Repräsentation oder Gesehen-Werden, angemessen zu berücksichtigen. Oder weil komplexe Zusammenhänge zu vereinfacht betrachtet werden. Deswegen setzen wir auf eine Debatte, die wertschätzend, ergebnisoffen und argumentbasiert geführt wird – und in der die Bereitschaft besteht, einander zu vertrauen und einander zuzuhören. 

    Mit verschiedenen Menschen ins Gespräch zu kommen, sich über Ideen, Werte und Perspektiven auszutauschen – davon lebt eine Demokratie. In solchen Situationen ist es allerdings bedeutsam, wie wir miteinander reden und umgehen. Jedes Gespräch bietet die Möglichkeit, das Gegenüber besser kennenzulernen, zu verstehen, was das Herz bewegt und welche Sorgen eine Person umhertreiben. Gespräche sind kein Wettbewerb um Rechthaberei vor einem Publikum, sondern eine Möglichkeit des zwischenmenschlichen Austauschs. Daher ist es wichtig, bei sich zu bleiben, nicht zu verallgemeinern und die Sorgen des Gegenübers zu detektieren und ernst zu nehmen. Konkrete Nachfragen zur individuellen Situation sind ein wichtiges Instrumentarium für kritische Selbstreflektion, d.h. in einem Gespräch sollten sich alle über ihren Lebensalltag austauschen können und falls verallgemeinert wird, sollten wir nicht verurteilen, sondern durch Nachfragen die Pauschalisierung in Frage stellen.

    Beispiele:

    A: “Hallo, wie geht’s dir heute und was bewegt dein Herz?“

    B: “Man kann gar nicht mehr in die Stadt gehen, weil da alles zu viel kostet.“

    A: “Tut mir leid zu hören, hast du Geldsorgen?“

    B: “Die ganzen Leute, die jetzt gekommen sind, sind einfach zu viel!“

    A, Verständnis zeigen für Frust: „Ja, es ist alles sehr teuer geworden. Aber kannst du mir erklären, was das mit den Leuten zu tun hat, die hierhergekommen sind?“

    B: “Keiner hat mehr Geld, Deutschland geht den Bach runter.“

    A: “Kannst du mir erklären, wie genau Deutschland den Bach runter geht?“

    B: “Die Flüchtlinge nehmen uns die Wohnungen weg und ich muss zusehen, wie ich zum Ende des Monats durchkomme.“

    A: “Das stimmt, die Mietpreise sind tatsächlich gestiegen, während die Reallöhne gesunken sind. Dabei ist es auch spannend, sich die Frage zu stellen, wie es dazu gekommen ist.“


    B: “Wir haben sowieso keinen Einfluss darauf.“

    A: “Kann ich verstehen, ich fühle mich auch oft ohnmächtig. Etwa, wenn ich schon wieder Frau xx genannt wurde, obwohl ich gesagt habe, dass ich divers bin.”

    Immer, wenn wir etwas sagen, dann ändert sich was. Wer anderen zuhört, wird dadurch beeinflusst. Miteinander sprechen und zuhören, Lernen und Verlernen, Verstehen wollen und erklären wollen – dies alles sind Dinge, die Menschen leisten müssen, um Teil einer sich stetig wandelnden Gesellschaft zu bleiben. Und um die Welt, die uns umgibt, in ihren gegebenen Komplexitäten verstehen und gestalten zu können.

    3. Wer hat Angst vor Komplexitäten?

    Alle Prozesse und Zusammenhänge, die unsere Welt ausmachen, sind komplex. Ursachen und deren Auswirkungen sowie die vielschichtigen Eigenschaften einer Sache oder einer Situation erzeugen Komplexitäten. Um diese überblicken, schätzen und berechnen können, bedarf es spezifischer Kompetenzen. Im Alltag aber ist es eine Kompetenz, Komplexitäten vereinfacht wahrnehmen und benennen zu können. Ein Beispiel: Wir alle wissen, was ein Apfel ist. Nach der Farbe eines Apfels gefragt, würden die meisten wohl sagen: ein Apfel ist grün, gelb oder rot. Genau genommen aber hat jeder Apfel eine ganz eigene Farbgebung. Ein Apfel, der vorwiegend rot ist, kann auch kleine gelbe oder grüne Stellen haben. Dennoch würden wir uns an der Obsttheke nicht die Mühe machen, auf diese Feinheiten einzugehen. Wir würden nicht den grünen Apfel mit den zwei gelben und den drei roten Stellen bestellen. Wir würden einfach sagen: Ich hätte gern den “grünen” Apfel. Im Alltag und konkret etwa in der Sprache ist es oft extrem hilfreich, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen. Das ermöglicht es uns, Entscheidungen treffen und handeln zu können. Die meisten Menschen können konstruktiv mit diesen verschiedenen Ebenen umgehen. Sie können wissen, dass sie dies oder jenes können oder wissen müssen, und sie wissen, dass sie Felder haben, in denen ihnen solch ein Wissen oder Können fehlt. Dies unterscheiden zu können, ist sehr wichtig; und es führt dazu, akzeptieren zu können, dass das eigene Wohlbefinden davon abhängen kann, Ärzt*innen, Virolog*innen oder Klimaforscher*innen zu vertrauen – auch und obwohl mensch die gegebene Komplexität nicht selbst zu durchdringen vermag. Zum Gesamtbild gehört es dabei, dass Wissen über Komplexitäten nicht in Stein gemeißelt sind, sondern komplexen Aushandlungsprozessen unterworfen bleiben müssen. 

    Diese wichtigen Kompetenzen im Umgang mit komplexen Zusammenhängen und Prozessen werden von politischen Strategien und Rhetoriken des Populismus und Rechtsextremismus bewusst und gezielt außer Kraft gesetzt.