1. Warum wird die AfD in Ostdeutschland mehr gewählt als dies in Westdeutschland der Fall ist?
Beim Wahlverhalten bei Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen sieht es so aus, dass die AfD generationenübergreifend gewählt wird, ohne dass es einen markanten Unterschied zwischen Männern und Frauen gäbe. Eine statistische Erfassung diverser Menschen gibt es bislang nicht, so dass dazu keine Aussagen möglich sind. Deutlich aber ist, dass die AfD in ländlichen Räumen deutlich mehr gewählt wird als in urbanen. Was die Bundesländer angeht: Die AfD wird umso mehr gewählt, umso südlicher und östlicher die Wahlurnen aufgestellt werden. Am höchsten sieht der Zuspruch allerdings tatsächlich in ostdeutschen Bundesländern aus. Die AfD fand und findet in Ostdeutschland noch immer stärkeren Zuspruch als in Westdeutschland. Ostdeutschland ist ein Brennpunkt der AfD-Präsenz und insbesondere der rechtsextremen Radikalisierung in Deutschland. Welche Gründe gibt es dafür?
Viele meinen, dass Ostdeutsche die AfD wählen, weil sie von westdeutschen Strukturen diskriminiert werden und sie sich als “Bürger zweiter Klasse” fühlen. Die Desillusionierung der Transformationsjahre gehe mit Politikverdrossenheit einher – und diese münde darin, dass Ostdeutsche die AfD als anti-westliche und anti-Establishment Partei wählen.
Zudem steht die AfD für eine autoritäre Staatsverfassung und diese halten Ostdeutsche mehrheitlich für geeigneter als die bisherige Demokratie, um anstehende Herausforderungen in den Griff zu bekommen (EFBI, 2023). Das kann nicht losgelöst davon verstanden werden, dass die DDR eine Diktatur war, die – zeitlich gesehen- nahtlos an die NS-Diktatur anschloss. So gesehen sind diktatorische Modelle den in der DDR sozialisierten Ostdeutschen vertraut. Und das ostdeutsche Wahlergebnis von 1990 gab mit Helmut Kohl einem autoritären Demokraten und einer sehr patriarchalisch geprägten “Staatsvaterschaft” das Vertrauen. Diese sich von den westdeutschen Sozialisierung unterscheidende Sozialisation kann ein Grund für den stärkeren Zuspruch zu Autokratie in Ostdeutschland sein und damit ein Pfrund für die AfD.
Drittens sind Ostdeutsche anfälliger für den völkischen Rassismus der AfD, und dafür, diesen offen zu vertreten, weil zivilgesellschaftliches Handeln von der SED-Diktatur ebenso unterbunden wurde wie eine kritische Reflektieren von Rassismus und Sexismus. Bei der Geburt bekamen Ostdeutsche zwar keinen Reisepass, wohl aber das Attest zugesteckt, per se antifaschistisch zu sein. Weil ihnen eingeredet wurde, dass sie gar nicht rassistisch oder sexistisch sein könnten, hatten sie nicht gelernt, wie solche Reflexionsprozesse individuell zu leisten sind. In diesem Klima konnte während der Revolution und im Einigungsprozess ein nationalistischer Ton angeschlagen werden, der von einer Rückbesinnung auf Volk als „weißes Volk“ geprägt war (Mitzkat, 2021).
Zwar wurde der ostdeutsche Resonanzraum durch den Umgang der SED-Diktatur mit Freiheit und Demokratie, aber eben auch Rassismus und Sexismus, und die ostdeutschen Transformationserfahrungen noch mal nuancenhaft anders geprägt als der Westdeutsche. Dennoch gibt es keinen zwangsläufigen Pfad, der von DDR-Prägungen und ostdeutschen Verletzungen zum Kreuzchen bei der blauen Partei führt. So wichtig es einerseits auch ist, zu verstehen, warum die AfD es schafft, ebendiese ostdeutschen Verletzungen zu instrumentalisieren und aus ihnen Honig zu saugen bzw. ostdeutsche Erfahrungen in der DDR und den Transformationsjahren den blauen Aufwind katalysatorisch beschleunigen, so falsch ist es andererseits zugleich, die AfD als rein ostdeutsche Partei misszuverstehen und ihren Aufstieg zu einem „Die-da-im-Osten-sind-Schuld“-Sonderweg zu erklären.
2. Ist die AfD ein ostdeutscher Sonderweg?
Obgleich die AfD in Ostdeutschland relativ mehr Wahlstimmen als in Westdeutschland einzusammeln vermag, findet sie nicht nur Zuspruch in den alten Bundesländern, sondern wird die AfD mehrheitlich von Intellektuellen aus Westdeutschland gesteuert. Viele meinen hingegen, dass die AfD eine ostdeutsche Partei sei, so wie es die Linkspartei einmal gewesen ist. Die AfD setzt sich bewusst so in Szene: als einzige Partei, die sich für “die Ostdeutschen” wirklich einsetzt und sie wirklich versteht: Die AfD sagt den Ostdeutschen, ihr müsst euch eure Rechte erstreiten und wir, die AfD, sind bereit, diesen Kampf für euch zu führen. Sie behauptet etwa: Das bisschen Arbeitsmarktchance, Wohlstand oder Anerkennung, welches sich die Ostdeutschen erarbeitet hätten und welches ihnen zustünde, vergäbe die Bundesregierung lieber an “Migranten”. Das aber würden Ostdeutsche nicht verdienen. Und zwar, weil sie weiß seien. Entsprechend wird propagiert, dass Ostdeutsche ihre eigene Position als Deutschlands „Andere“ nur dadurch überwinden könnten, dass der bundesdeutsche Wohlstand und die Zugehörigkeit zu diesem Land BIJPoC verweigert werde.
Mal abgesehen davon, dass die AfD darüber lügt, wie schwer Wege von Asylsuchenden zwischen Asylbeantragung, Visumsverlängerung und Arbeitssuche sind und wie oft Geflüchtete in Berufe gezwungen werden, die unter ihrer Qualifizierungsstufe liegen, und deutlich weniger Lohn als Menschen mit einem deutschen Pass bekommen (Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, 2019): Wenn die AfD behauptet, dass sie Ostdeutsche dadurch beschützen würde, dass sie Geflüchtete verdrängt, bewegt sie sich genau im ewigen Fluss der scheinheiligen Teile-und-Herrsche-Agenda der Diskriminierenden, ohne an einer echten Problemlösung auch nur interessiert zu sein.
Zwar bietet die rassistische Propaganda der AfD Ostdeutschen ein Ventil, um eigene Diskriminierungserfahrungen in Richtung jener abzulassen, die noch fragiler und strukturell ungeschützter sind. Doch am Ende ändert sich die reale Situation der Ostdeutschen nicht zum Besseren. Anders als es PDS, später Die Linke, in den 1990ern und 2000ern war, ist die AfD keine ostdeutsche Partei. Ebenso wenig wie die AfD Interessen von Menschen mit geringem Einkommen vertritt, hat sie vor, ostdeutsche Infrastrukturen oder Biografien zu stärken. Wirtschaftliche Sorgen von Ostdeutschen lassen sich so nicht lösen und angemessene Jobs nicht leichter finden. Und das Gefühl, Westdeutschen unterlegen zu sein, lässt sich so auch nicht überschreiben. Ganz im Gegenteil ist ja die ostdeutsche AfD-Affinität eine neue Trumpf-Karte, die westdeutsche Überlegenheitserzählungen speist und die AfD genau dadurch nach oben spült.
3. Warum stärkt es die AfD, so zu tun, als sei die AfD eine ostdeutsche Partei
Die AfD als ein ostdeutsches Problem abzutun, bietet Westdeutschland die Möglichkeit, sich im Sinne der tradierten westdeutschen Überlegenheitsnarrative über Ostdeutsche zu erheben und sich dazu auch berechtigt zu fühlen: „AfD? Ja. Die Ossis sind einfach verzwergt und dumm.“ Die besonders Engagierten bieten bestenfalls einen gepflegten Gesprächsrahmen dafür an, dass der Osten sich mal in den Griff bekommen müsse und dass dies dann das AfD-Problem gleich mit löse. Doch wenn Westdeutsche die AfD allein dem Osten anlasten oder gar sagen, der Osten wähle die AfD, weil er so demokratieunfähig sei, wird das alte westdeutsche Überlegenheitsnarrativ gegenüber Ostdeutschland bedient. Wenn der Westen es sich auf diese Weise bequem macht, in seiner alten Arroganz was Besseres als der Osten zu sein, hat er das Problem schon wieder nicht verstanden, sondern verschlimmert. Denn die westdeutsche Ostdeutschland-Schelte kommt bei Ostdeutschen als Diskriminierung an. Das bietet der AfD ein bequemes Einfallstor. Denn dass Westdeutschland sich im Sessel zurücklehnt und so tut, als hätte die AfD nichts mit ihnen zu tun, stellt die tradierte westdeutsche Arroganz zur Schau, welche viele Ostdeutsche in die Populismus-Arme der AfD treibt.
Zudem ist der westdeutsche Fingerzeig gen Osten (ich verurteile jetzt mal gründlich die ostdeutsche Schuld für die AfD, und schon stehe ich auf der richtigen Seite) eine oberflächliche und falsche Analyse, welche die eigentlichen Probleme vernebelt und so den Blick darauf verstellt, was es eigentlich bedarf, um die AfD zu bekämpfen: Die AfD erhebt sich aus der Tiefe der Geschichte des völkischen Rassismus, aber ist es nicht nur AfD-förderlich, sie als ostdeutsche Partei zu setzen, sondern auch falsch.
Je eher der Westen von seinem hohen Ross runterkommt, auf dem es angeblich keine AfD-Affinitäten gäbe, desto eher kann damit begonnen werden, den Graben zwischen der AfD und dem restlichen Gesamtdeutschland zu ziehen. Das aber schließt ein, anzuerkennen, dass sich viele Ostdeutsche offen gegen die AfD stellen – und zwar dem Kopfschütteln der Westdeutschen und dem Rechtsruck der „Mitte der Gesellschaft“ zum Trotz.